Eine Frage des Willens

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Was da gestern Abend in der SAP Arena passierte war unbeschreiblich. Pokal-Fight, Pokal-Krimi, Abnutzungskampf, Pokalschlacht, Pokaldrama … egal: Keiner dieser Begriffe wird dem Spiel wirklich gerecht. DAS. WAR. SPARTAAAA, pardon HANDBALL! Dass die Rhein-Neckar Löwen das Spiel noch zogen war vor allem eine Frage des Willens.

Wenn du die Muntermacher mit den Schlafpillen verwechselst

Keine Ahnung, was die Löwen kurz vor dem Spiel getrunken haben. Es muss etwas gewesen sein, das mit Valium oder ähnlichen Stoffen vermischt war. Tollbring anstelle von Gensheimer, Nielsen für Kohlbacher, Fäth statt Lagarde, daran kann es nicht gelegen haben, dass die Löwen so schlafmützig auftraten. Null Tempo im Angriff, zumeist keine Aggressivität in der Abwehr, keine Torhüterleistung von Appelgren. Kein Wunder, dass es in der 8. Minute 2:6 stand.

Göppingen spielte bis dahin, und auch im weiteren Verlauf des Spiels, nichts Spektakuläres. Aber das, was sie spielten, machten sie außerordentlich gut! Unter anderem waren es schnelle Kreuzungen im Angriff, die Lücken in die schwerfällige Löwen-Abwehr rissen, sowie gut getimte Stoppfouls in der Abwehr, die dafür sorgten, dass die Löwen überhaupt nicht ins Spiel fanden. Hier war schon absehbar, dass es für die Löwen eine Frage des Willens sein wird, sich durchzusetzen.

Was ist mit Lagarde?

Romain Lagarde, der zu Beginn der Saison schon erstaunlich gut integriert schien, ist seit einer Weile mehr oder minder abgetaucht. Er kam für Fäth, als dieser zwei Minuten auf der Bank abbrummen musste. Hier, und auch später im Spiel, wirkte er aber unsicher, nicht entschlussfreudig und nicht sehr konsequent in seinen Aktionen. Die ganze Körpersprache stimmt nicht. Ich hoffe, dass die Löwen ihn schnell wieder in Form bekommen.

Auszeit nach 15 Minuten

Die Löwen lagen zu dem Zeitpunkt 6:10 hinten. Sechs eigene und zehn Gegentore in 15 Minuten! Indiskutabel! Nach der Auszeit wurde es dann wenigstens besser. Spielerisch leicht wirkte es nach wie vor nicht. Es war eher eine Frage des Willens, was die Löwen näher an Göppingen heran brachte. Und Andreas Palicka, der nach der Auszeit für Appelgren kam und sich gleich mit einer starken Parade einführte. Zweimal Groetzki von außen und einmal Petersson, der ebenfalls neu im Spiel war, sorgten für das 9:10 in der 21. Minute.

Noch immer stottert der Motor

Ja, es war besser, was die Löwen zeigten, aber so richtig flüssig lief es nach wie vor nicht. Gerade die Stoppfouls der Göppinger unterbrachen den Spielfluss der Löwen immer wieder. Und dann ist da noch das Thema Überzahlspiel. Auch wenn das beim Nachbetrachten des Spiels deutlich besser wirkt als gestern in der Halle, bleibe ich dabei, dass mich das nicht wirklich überzeugt. Dazu muss ich aber ein klein wenig ausholen.

Zwei Kreisläufer – Vor- und Nachteil zugleich

Ich kann die Grundidee hinter dem Konzept mit zwei Kreisläufern in Überzahl durchaus nachvollziehen. Die Löwen sind auch nicht das einzige Team, das so agiert. Zwei Kreisläufer, noch dazu zwei so gute wie Kohlbacher und Nielsen, sind schon ein starkes Argument für diese Formation. In erster Linie sieht es für mich so aus, dass der Plan ganz klar darauf ausgelegt ist, dass Schmid entscheidet. Entweder Pass auf einen der Kreisläufer, oder selber werfen. Alles andere erscheint sekundär.

Nachteil: Das Ganze wirkt sehr statisch! Das Tempo geht praktisch komplett raus aus dem Angriffsspiel. Die Abwehr kann es den Löwen, wenn sie aufmerksam ist, sehr schwer machen, zum Erfolg zu kommen. Was mir hier fehlt ist eine Alternative zu dieser Formation. Eine, bei der nur ein Kreisläufer da ist, dafür aber jede Rückraumposition besetzt ist. Dann den Ball schnell durchspielen, dabei von jeder Rückraumposition aus stoßen, um so den Außen frei zu bekommen. Sozusagen eine ganz klassische Variante. Vielleicht sehe ich das ja zu kritisch, aber schön wäre eine Alternative schon.

Ab in die 2. Halbzeit

Gensheimer für Tollbring, Petersson für Kirkeløkke, Lagarde für Fäth und natürlich Palicka für Appelgren, so sahen die Veränderungen bei den Löwen gegenüber dem Anfang des Spiels aus, als es nach der Pause weiter ging. Ach ja: Guardiola kam in der Abwehr für Nielsen, sprich: Krisján Andrésson agierte wieder mit einem Doppelwechsel Abwehr/Angriff. Eigentlich nicht seine Wunschvorstellung, aber ich finde es gut, dass er diese Variante nicht kategorisch ausschließt, sondern auf sie zurück greift, wenn die Stabilität in der Abwehr fehlt.

Ran, aber nicht so richtig

Es war bereits zu diesem Zeitpunkt vor allem eine Frage des Willens, dass die Löwen dran blieben. OK, ein paar spielerische Highlight gab es nun auch, aber noch wirkte das Ganze recht zäh. Die Göppinger ließen nicht nach, spielten weiterhin sicher, mit wenig Fehlern und machten das hervorragend. Kein Wunder, dass die Löwen zunächst nicht näher kamen. Noch schlimmer: Nach 38 Minuten stand es 17:21! Zeit für die zweite Auszeit der Löwen.

Der 7. Feldspieler

Was Nikolaj Jacobsen wohl schon erheblich früher versucht hätte war nun das Mittel der Wahl von Andrésson: Der 7. Feldspieler kam. Guardiola als zweiter Kreisläufer brachte auch gleich die erhoffte Wirkung und Groetzki konnte treffen. Eine Zeitstrafe gegen Petersson machte dieses Konzept aber schnell wieder zunichte. Gut, dass Palicka da war! Fäth war wieder zurück für den schwachen Lagarde und er holte auch gleich einen Siebenmeter, den Schmid zum 19:21 verwandeln konnte. Starke Abwehrarbeit, Konter und Tor Groetzki – 20:21, Auszeit Göppingen nach knapp 41 Minuten.

Die Löwen packen es (noch) nicht

Nahe dran waren die Löwen jetzt wieder, aber der Ausgleich gelang einfach nicht. Kirkeløkke mit Schmackes an den Pfosten, Göppingen trifft zum 20:22. Kohlbacher zum 21:22, Abwehr erobert den Ball, technischer Fehler vorne. Die Abwehr erobert erneut den Ball, Gensheimer trifft! Unfassbar! Nach 45 (!) Minuten endlich der Ausgleich!

Jetzt geht’s los!

Na ja, nicht gleich. Wieder legt Göppingen vor, Kirkeløkke zum erneuten Ausgleich. Es war wirklich eine Frage des Willens, wie die Löwen in dieser Phase des Spiels agierten. Man merkte, dass es ihnen heute auch für den Rest des Spiels nicht leicht von der Hand gehen wird. Die Abwehr war jedenfalls aufmerksamer, aggressiver, agierte plötzlich ebenfalls vermehrt mit Stoppfouls. Dann aber eine kritische Situation. Die Schiedsrichter mit einem 50/50-Pfiff, Guardiola kann es nicht verstehen und geht aus Unverständnis auf die Knie. Konsequenz: Zwei Minuten! Kann man geben, keine Frage.

Danke, liebe Schiedsrichter!

Danke? Für eine Zeitstrafe gegen einen Löwenspieler? JA! Denn ab diesem Moment, in der 49. Minute, war die Halle endgültig auf Betriebstemperatur. Alle folgten der Aufforderung von Hallensprecher Kevin Gerwien, aufzustehen. Wobei … vier Zuschauer, die ich im Blick hatte, blieben sitzen, obwohl die eigentlich nichts mehr sehen konnten. Warum gehen eigentlich die in die Halle? Egal, weiter geht’s!

Andy, der Zeitmagier

Was nun folgte war etwas, was Befürwortern einer Shotclock im Handball in die Karten spielen dürfte. Die Zeitstrafe gab es bei 48:24 Minuten, die Löwen kamen durch eine Parade von Palicka bei 48:38 Minuten wieder in Ballbesitz. Noch 1:50 Minuten Unterzahl. Was passiert? Schmid zieht mehrere Male einen Freiwurf, lässt sich geraaaade genug Zeit, um nicht zu sehr aufzufallen, und bei erhobenem Arm der Schiedsrichter erzielt Schmid nach genau 50:16 Minuten das 24:23! Satte 98 Sekunden dauerte der Angriff der Löwen in Unterzahl, und als Guardiola wieder kam, war eigentlich nichts passiert.

FÜÜÜÜÜÜÜHRUUUUUNG!

Die Löwen waren in Führung. Erstmals (!) in dieser Partie. Eine Frage des Willens, denn zum Schönspielen waren die Löwen nicht in der notwendigen Form, und Göppingen hätte es auch kaum zugelassen. Technischer Fehler Göppingen, Gensheimer in der ersten Welle zum 25:23. Wieder ein technischer Fehler der Gäste, wieder ein Tor für die Löwen zum 26:23, dieses Mal durch Groetzki aus dem (fast) halblinken Rückraum. In der 54. Minute schiene die Löwen auf Kurs Viertelfinale zu sein.

Eine Frage des Willens – auch für Göppingen

Pech für die Löwen, dass Göppingen dieses Spiel ebenfalls zu einer Frage des Willens machte. Siebenmeter Frisch auf!, Fehlwurf Kirkeløkke, Treffer Göppingen, und schon steht es nur noch 26:25, mit weniger als fünf Minuten verbleibender Spielzeit. Schmid trifft, Göppingen trifft ins leere Tor, weil keiner der Löwen rechtzeitig an der Seitenlinie war, um Palicka die Rückkehr auf die Platte zu erlauben. 27:26, Fehlwurf Kohlbacher – jaja, tatsächlich! – und dann ist Guardiola zwei Sekunden vor Ablauf seiner Zeitstrafe wieder auf dem Feld. Statt voller Mannschaftsstärke wieder zwei Minuten Unterzahl. Die Löwen machen es sich selber schwerer als notwendig.

Wieder Ausgleich

Die kurze Zeit im 6 gegen 4 reicht Göppingen, um das 27:27 zu erzielen. Der ganze schöne Vorteil für die Löwen war wieder weg. Tor Kohlbacher, die Halle rastet aus. Tor Göppingen, kollektives Aufstöhnen. Die Löwen haben wieder den Ball, noch etwas mehr als eine Minute zu spielen. In aller Ruhe spielen es die Löwen aus, Schmid trifft zum 29:28, aber noch sind rund 30 Sekunden zu spielen. Auch Göppingen lässt sich Zeit, Guardiola misslingt das Stoppfoul, und Theilinger trifft drei Sekunden vor dem Schlusspfiff zum 29:29.

Verlängerung

Die beginnt mit einer gelben Karte gegen die Göppinger Bank, weil die Gäste verspätet aus der Kabine kommen. Die Löwen in Ballbesitz. Eine Frage des Willens war dann der erste Treffer der Löwen in der Verlängerung. Petersson netzte nach langem Weg von der halblinken Kreisposition zum 30:29 ein. Eine starke Abwehr und Palicka verhindern den Ausgleich, technischer Fehler im Angriff der Löwen, und Palicka ist wieder da! Schmid trifft per abgefälschtem Schlagwurf zum 31:29, doch noch ist Göppingen nicht geschlagen. Kozina verliert zwar den Schuh, trift aber dennoch zum 31:30. Die Absetzbemühungen der Löwen werden noch nicht belohnt, auch wenn Schmid zum 32:30 trifft.

Palicka. Immer wieder Palicka.

Palicka war wirklich gut im Spiel, brachte viel Emotion rein. Nur gegen Würfe von außen war er komplett machtlos. Apropos Emotionen. Die Halle stand während der gesamten Verlängerung! Zumindest fast. Wie vorhin schon blieben vier Zuschauer sitzen. Vielleicht waren die Rücken der Vorderleute sehenswert genug? Ich weiß es doch auch nicht!

Eine Frage des Willens – Der letzte Akt

Mit 33:31 für die Löwen ging es in die zweite Halbzeit der Verlängerung. Nach wie vor waren die Löwen nicht überlegen. Dass nach so einem harten, intensiven und anstrengenden Spiel aber die Kräfte bei den Gästen etwas mehr nachließen als bei den Löwen, das war doch zu merken. Alles wirkte einen Tick langsamer, einen Tick weniger konsequent. was nicht heißt, dass Göppingen sich aufgab! Nein, auch hier war es eine Frage des Willens, und Göppingen holte die letzten Körner raus. 33:32, 34:32 – und dann erobern die Löwen den Ball in der Abwehr.

Der Andy macht’s!

In der 68. Minute trifft Schmid mit feinem Heber zum 35:32. Dass die Ringereinlage gegen Kohlbacher ohne Bestrafung bleibt ist am Ende nur eine Randnotiz. Heymann trifft zwar noch zum 35:33, doch die Löwen agieren clever gegen die offene Manndeckung der Göppinger, was Gensheimer den Treffer zum 36:33 ermöglicht. Das war die endgültige Entscheidung! Das 36:34 änderte nichts mehr am Erfolg der Löwen.

Eine Frage des Willens – für alle!

Was die Löwen an spielerischer Leichtigkeit und weitgehend an Kreativität vermissen ließen, das machten sie durch unglaublichen Willen wett. Göppingen hat ein überragendes Spiel geliefert. Wie gesagt: Nichts Spektakuläres, aber sehr solide, sehr clever, sehr konsequent.

Auch für die Zuschauer war es eine Frage des Willens. Bis zum Schluss durchhalten, gegen Ende hin immer mehr Gas geben, die Löwen bei schwindenden Kräften zu tragen – all das gelang gestern Abend. Dieses Spiel hätte mehr als 3753 Zuschauer verdient gehabt. Darf ich ehrlich sein? Ich bin froh, wenn die neue Halle in Heidelberg bezugsfertig ist! Ein solches Spiel, vor genauso vielen Zuschauern, in einer kleineren, engeren Halle? Unfassbar genial! Ich hoffe, die Heidelberger Halle hat ein stabil befestigtes Dach. Bei der gestrigen Stimmung würde das sonst wegfliegen.

In eigener Sache

Mir bleibt jetzt nur noch eines. Nämlich meinen Aufruf auf Twitter hier zu wiederholen. Die Suche konnte noch nicht erfolgreich beendet werden. Übrigens: Es eilt! Schon am Sonntag geht es zuhause gegen die HSG Wetzlar, die nur knapp an einer Pokal-Überraschung gegen den THW Kiel vorbei schrammte. Also: Augen, ähhh Ohren auf! Danke!